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OPFERMACHT. Klartext reden über sexualisierte Gewalt (von Nora Kellner)

Neele war bei der Lesung in der Regionalbibliothek dabei und berichtet.

In folgender Reportage wird sexualisierte Gewalt thematisiert. Im Rahmen einer Buchvorstellung und Lesung erfolgte eine theoretische sowie explizite Beschreibung von sexualisierter Gewalt. Diese Triggerwarnung soll keinesfalls als Ausschluss gelesen werden. Es gibt aber Tage, Momente sowie Situationen, an/in denen Betroffene keine Ressourcen oder Kapazitäten freihaben, um sich mit dem eigenen Trauma auseinanderzusetzen. Das ist völlig legitim. Entscheidet also selbstbestimmt, ob ihr diese Reportage lesen wollt, tut dies gerne zusammen mit einer Bezugsperson und lest nur so viel, wie ihr verkraften könnt.

Lesung in der Regionalbibliothek

WEIDEN, der zweite Dezember 2022

Die Autorin ist noch jung. Das Publikum gemischt – doch überwiegend Frauen.

Die Stimmung ist angespannt und erwartungsvoll lauschen die Anwesenden, was sie den heutigen Abend zu erwarten haben. Nora, steht neben einem Flipchart, auf dem Schlagwörter wie FLINTA*, trans, inter* und cis geschrieben sind und den Anwesenden sofort ins Auge fallen. Sobald sich das Publikum beruhigt hat, geht es los.

Bevor die Autorin, Nora Kellner, das Wort erlangt, erfolgen ein paar einleitende Worte des Veranstalters über den Ablauf der Veranstaltung, die anstehende Buchveröffentlichung und kurze Informationen über die eingeladene Autorin.

Vergewaltigung muss nicht zum Leben dazugehören. Es steht nicht in eurer Verantwortung, vorsichtig zu sein, euch zu beschränken, leiser und braver zu sein, damit Männer euch nicht vergewaltigen.« (Laurie Penny)

Nora Kellner ist 24 Jahre alt und hat in Dresden Politikwissenschaft studiert. Nach ihrem Bachelorabschluss ging es für sie weiter nach Köln und aktuell studiert sie dort Gender und Queer Studies als Masterstudiengang. Auch sie selbst ist ein Opfer von sexualisierter Gewalt. Ihre eigenen Erfahrungen bewegen sie dazu, gesellschaftliche Dynamiken und Strukturen aufzuzeigen und sichtbar zu machen. Ihr Buch mit dem Titel „Opfermacht, Klartext reden über sexualisierte Gewalt“ ist die Folge persönlicher Erlebnisse aber auch die Folge von gesellschaftlichen Strukturen und Problemen.

Nora Kellner

Buchcover von Felix Hetscher

Sexualisierte Gewalt ist in allen gesellschaftlichen Strukturen eine ständige Begleitung. Das wohl größte Problem ist die immer einhergehende Tabuisierung dieser Thematik, welche nicht zuletzt der vorherrschenden Kultur des Schweigens geschuldet ist.

Die Gründe, warum Opfer schweigen und wie dieses sich manifestiert und reproduziert wird, analysiert Nora Kellner in ihrem Buch „Opfermacht, Klartext reden über sexualisierte Gewalt“.

Als Privileg hatte Nora es lange bezeichnet, jedoch wirkt diese Aussage paradox angesichts dessen, was Nora erlebt hat. Mit „Privileg“ ist nicht das Geschehene gemeint, sondern die Möglichkeit, daran zu wachsen und die damit einhergehende Persönlichkeitsentfaltung.

Mit Hilfe dieses „Privilegs“ war es für Nora möglich, sich aus der zugewiesenen Opferrolle zu befreien und ein altes und nun doch neues Leben wiederzuerlangen. Für die Protagonistin des Abends ist zu betonen, dass sie der festen Überzeugung ist, dass die Opfer von sexualisierter Gewalt durchaus in der Lage sein können, sich mit dieser zu beschäftigen.

Dieser Prozess kann ihrer Meinung nach auch eine empowernde Wirkung haben. Ihr Buch beschreibt dann auch ihren Prozess der persönlichen Verarbeitung und Akzeptanz mit allen Höhen und Tiefen.

Nach dem Lesen der ersten halben Seite, auf der sie die anfänglichen Gefühle, Wahrnehmungen und das Gefühlschaos, welchem sie ausgesetzt war, um das Geschehene zu realisieren und verarbeiten zu können, schildert, erzählt sie, dass sie nach einem abendlichen Spaziergang angefangen hat, die ersten Sätze zu tippen: „Es war eigentlich alles noch recht unkonkret doch irgendwie musste es raus. Sie konnten nicht länger in mir bleiben“, sagt die junge Autorin.

Vor Ort bei der Lesung

Die junge Autorin beim Verschicken des Manuskripts.

Die anwesende Zuhörerschaft lauscht gespannt dem Aufbau des vorgestellten Buches, das bald veröffentlicht wird: „Während sich die erste halbe Seite mit einer starken Emotionalität vom analytischen Aufbau des restlichen Buches abkoppelt, ist das Buch in zwei Teile aufgebaut“, erklärt Nora. Die besuchte Lesung erfolgte aus Teilen des Vorwortes und des zweiten Teils.

Der zweite Teil thematisiert insgesamt fünf Themen, welche mit Hilfe persönlicher Erfahrungen bearbeitet und ausgeformt werden. Der erste Teil des Buches hingegen beschäftigt sich mit persönlichen Erlebnissen, welche aber jedoch vor der Buchveröffentlichung März/April 2023 nicht vorweggenommen werden sollen.

Grundlegend, um Verständnisbarrieren entgegenzuwirken, beginnt Nora die Lesung einleitend mit Begriffserklärungen. „FLINTA“ ist beispielsweise deutlich sichtbar in roten Buchstaben auf ein Flipchart geschrieben.

Die Sozialwissenschaftlicherin positioniert sich neben dem Board und erklärt, für jene Anwesenden, die nun deutlich sichtbaren Schlagwörter: „Flinta steht für ›Frauen‹, ›Lesben‹, ›inter‹, ›nicht-binär‹ bzw. ›non-binary‹, ›trans‹ und ›agender‹. Mit diesem Begriff sollen alle Personengruppen angesprochen werden, die vom Patriarchat unterdrückt werden. Damit soll der Blick geweitet und der Fokus nicht mehr nur auf Frauen gelegt werden.“ Anschließend folgen nach Flinta auch die Erklärungen von inter, trans, cis und Opfer.

Nora hat sich viel mit dem Begriff „Opfer“ beschäftigt und sich selbst dazu entschieden, die Opferrolle anzunehmen. Dennoch erklärt sie, dass sie beschlossen hat, den Begriff „Opfer“ als Fremdbezeichnung zu nutzen, da sie auch jegliche andere Positionierung von Betroffenen entgegen ihrer freigewählten Opferrolle respektiert und akzeptiert. Die Verwendung des Begriffs bedeutet für Nora, dass ihr ein Unrecht widerfahren ist, welche Tatsache durch andere Begrifflichkeiten für sie nicht stark genug zum Ausdruck kommt.

Schweigen ist Gold für Männer, die Frauen unterdrücken und durch Einschüchterung dazu bringen, nicht zu reden oder ihre Aussagen zu ändern, um die Harmonie zu wahren. Schweigen isoliert ihre Opfer und ermöglicht Misogynie. Also brechen wir das Schweigen. (Kate Manne)

Die abendliche Lesung wurde mit einer angeregten Diskussion über das Gesagte abgerundet. Die während der Lesung anwesenden Personen schildern teilweise und indirekt eigene Erfahrungen sowie ihre persönlichen Wünschen. Eine Zuhörerin äußert sich und erzählt, dass sie selbst bereits Großmutter sei und es ihr sehr am Herzen läge, dass doch mit Söhnen genauso gesprochen werden sollte wie mit Töchtern. Ihr selbst sei es für ihren Enkel besonders wichtig, dass er Umgangsformen und Freundschaften mit anderen Geschlechtern zu schätzen lernt und diese nicht mit Füßen tritt. Bei diesen und anderen Kommentaren spürt man das Aufkommen einer zunehmenden Betroffenheit und Nachdenklichkeit in der Atmosphäre und dem Gesagtem. Die Frustration über die Verankerung der Tabuisierung und den Umgang von und mit sexualisierter Gewalt liegt als schwerer Schatten über unserer Gesellschaft. Auch die tägliche Konfrontation sowie Auseinandersetzung mit der Thematik ist meistens für Betroffene oftmals nicht zu vermeiden.

Während der Lesung

However, I’m afraid there’s one thing I can’t teach you – I can’t teach you how to avoid sexual assault. It’s not something anyone can avoid by taking protective measures, because sexual assault is never your fault.« – »Aber ich fürchte, es gibt eine Sache, die ich euch nicht beibringen kann – Ich kann euch nicht beibringen, wie ihr sexualisierte Übergriffe vermeidet. Das ist nichts, was irgendwer durch Schutzmaßnahmen vermeiden kann, denn sexualisierte Übergriffe sind niemals eure Schuld.« (Florence Given)

Text und Fotos: Neele, Illustration der Triggerwarnung: Carla. Die Fotos der Autorin und des Covers wurden mit Erlaubnis der Autorin veröffentlicht.
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